Graffiti und Street Art

Illustration by Tine Fetz

Das Beschreiben und Bemalen öffentlicher Flächen gibt es schon viel länger als die relativ jungen subkulturellen Phänomene Graffiti und Street Art. Eingriffe in den öffentlichen Raum werden in unterschiedlichen kulturellen, politischen und künstlerischen Kontexten als Gestaltungs- und Kommunikationsmittel genutzt. An Hauswände gemalte oder gesprühte politische Parolen gehören seit jeher zu politischen Bewegungen, nicht erst seit der westdeutschen Hausbesetzer*innen-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre, die dieses Ausdrucksmittel intensiv nutzt. In der DDR werden ebenfalls politische Parolen gemalt, in der Regel jedoch von der Staatssicherheit umgehend entfernt. Die Berliner Mauer bietet sich zunächst nur in West-Berlin als riesige Leinwand an, auf die ab den 1970er Jahren politische Slogans, Wandmalereien und später Graffiti gemalt und gesprüht werden. Nach dem Fall der Mauer wird auch die Ostseite genutzt. Ein Teil davon ist heute als East Side Gallery erhalten und steht unter Denkmalschutz. Zu diesen und anderen Arten der Gestaltung des öffentlichen Raumes finden sich in der Sammlung des AdJ vielfältige Materialien. Hervorzuheben ist das Kassler Archiv für Graffiti-Forschung von Axel Thiel, das als Nachlass vom AdJ übernommen wurde und Literatur zur Kulturgeschichte der Wandmalereien enthält.

Als subkulturelle Ausdrucksform wird Graffiti in den 1970er Jahren in den USA im Kontext der entstehenden Hip-Hop-Kultur populär und verbreitet sich ab Anfang der 1980er durch Filme über die New Yorker Hip-Hop-Szene wie Wild Style (1983) auch in Europa. In dieser Zeit werden auch die ersten Graffiti in Berlin gesprüht. Im Laufe der 1980er Jahre entstehen in allen West-Berliner Bezirken informelle Zusammenschlüsse von Sprüher*innen: Crews, die gemeinsam Sprühen gehen. Die Sprüher*innen schreiben ihren eigenen Sprüher*innennamen (z. B. Amok, Kaos, Shek oder Maxim) oder den Namen ihrer Crew, meist eine Abkürzung (z. B. TDC für The Denots Crew oder TCF für The Comic Freezers) auf Wände und andere Oberflächen, weshalb diese Art von Graffiti „Writing“ genannt wird. Auch West-Berliner Jugendgangs, z. B. die bis Mitte der 1990er Jahre aktiven 36 Boys aus Kreuzberg, markieren auf diese Weise ihren Bewegungsraum. Aus Mangel an Sprühdosen entstehen in der DDR nur vereinzelt Graffiti. Die ostdeutschen Jugendlichen behelfen sich jedoch mit Wandfarbe und Schuhcrememarker.  

Klassisches Writing kommt entweder in Form von Tags – eher kleinen, schnell mit Stift oder Sprühfarbe geschriebenen Namen oder Kürzeln an möglichst vielen Stellen im öffentlichen Raum – oder in Form von aufwendigen „Style Writings“ vor. Beim Style Writing werden der Name, andere Wörter und Sprüche in großen, aufwendig gestalteten Buchstaben möglichst kunstvoll und in einem eigenen Stil auf Wände gesprüht, häufig an weithin sichtbaren Stellen. Eine besonders beliebte Disziplin ist das Besprühen von U-Bahnen und anderen Zügen, auf denen die Motive dann quer durch die Stadt gefahren werden.

Nach dem Mauerfall gibt es einen Graffiti-Boom in Berlin, da es vor allem entlang des ehemaligen Mauerstreifens viele freie Wandflächen gibt und aufgrund der unübersichtlichen rechtlichen Situation vor der Wiedervereinigung kaum Strafverfolgung im Ostteil der Stadt zu befürchten ist. Die Szene wächst weiter, da nun auch die Jugendlichen aus dem Ostteil der Stadt Zugang zu Sprühdosen haben. Außerdem bilden sich erste rein weibliche Crews wie KSB oder TMC, weil viele Sprüherinnen schlechte Erfahrungen mit dem mackerhaften Verhalten männlicher Sprüher machen. Es entwickelt sich eine Infrastruktur mit Spezialläden für Graffitibedarf wie Mad Flavor, Downstairs oder Wildstyle. 1994 findet im Rahmen des von der Akademie der Künste organisierten Festivals X94 – Junge Kunst und Kultur die erste Writing-Ausstellung in Berlin statt. In dem zur Ausstellung erschienenen Buch Spray City – Graffiti in Berlin werden nicht nur Sprüher*innen und Crews aus verschiedenen Berliner Bezirken vorgestellt, sondern auch aktuelle Diskurse über Writing aus der Perspektive der Sprüher*innen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Gleichzeitig wird Graffiti ab 1994 in vielen Bevölkerungsteilen zunehmend als Vandalismus wahrgenommen und massiv kriminalisiert. Der Senat ruft die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Graffiti in Berlin ins Leben, die zahlreiche Razzien durchführt. Zusätzlich gründet sich der Verein Nofitti e.V., der sich die „Rettung des Berliner Stadtbildes“ zu Aufgabe gemacht hat, und die BVG führt eine Nulltoleranzpolitik ein. Besprühte Züge werden sofort gereinigt und Sprüher*innen straf- und zivilrechtlich verfolgt. Trotz dieser Maßnahmen hat Berlin weiterhin eine der aktivsten Graffitiszenen Europas, was sich in der Omnipräsenz von Graffiti im Stadtbild zeigt. Writing hat sich zudem als Ausdrucksform anderer subkultureller Szenen wie der Fußballfan- und Ultraszene etabliert und ist nicht mehr ausschließlich Teil der Hip-Hop-Szene.

Sprüher*innen und Fans der Szene begegnen der Vergänglichkeit von Graffiti, indem sie diese in Form von Fotografien dokumentieren und auf Webseiten wie streetfiles.org sammeln oder in Magazinen und Bildbänden abdrucken. Das Graffitiarchiv des AdJ enthält eine umfassende Sammlung von Publikationen, die die Aktivitäten der deutschen Graffitiszene ab den frühen 1990er Jahren dokumentiert. Dazu gehören Hip-Hop-Fanzines und reine Graffitimagazine wie die in Berlin veröffentlichten Overkill und Backjumps. Diese Hefte haben zuerst noch den Charakter kopierter Fanzines, schon bald werden aber auch die Möglichkeiten des Offsetdrucks genutzt, um die Fotografien besser zur Geltung zu bringen, und die Hefte entwickeln sich zu professionell gemachten Hochglanzmagazinen. In den letzten Jahren ermöglicht der kostengünstige Digitaldruck außerdem das Erscheinen von in kleiner Auflage produzierten und häufig anonym veröffentlichten Bildbänden von einzelnen Künstler*innen oder spezialisierten Graffitifotograf*innen. Auch diese werden im AdJ gesammelt.

Im Laufe der 1990er Jahre diversifiziert sich Graffiti zunehmend. Nicht nur löst sich die subkulturelle Kunstform von ihren Wurzeln im Hip Hop, es werden neben dem klassischen Writing auch neue Techniken und Stile genutzt, teilweise im Rückgriff auf Techniken aus der Wandmalerei der 1970er Jahre. Beispielsweise wird mit Wandfarbe gemalt, mit Hilfe von Schablonen gesprüht und es werden Cut-Outs und Plakate geklebt. Außerdem erweitert sich die Palette der Ausdrucksformen um Skulpturen, Lichtinstallationen, Urban Gardening, Urban Knitting und Adbusting. 2003 findet die erste Backjumps-Ausstellung in Berlin statt, die eine internationale Auswahl an Künstler*innen nach Berlin holt und dazu beiträgt, dass sich der Begriff „Street Art“ für die neuen Techniken und Stile etabliert und Street Art viele Nachahmer*innen findet. Die Kunstwerke, darunter Arbeiten von späteren Stars wie Banksy, Shepard Fairey oder Swoon, werden im Künstlerhaus Bethanien ausgestellt. Gleichzeitig bringen die Künstler*innen ihre Kunst im Stadtgebiet an.

Viele Berliner Künstler*innen nutzen die offene Siebdruckwerkstatt Fleischerei (2001 – 2009) am Rosenthaler Platz, um hier Plakate und Aufkleber zu drucken. Das AdJ hat eine Sammlung an in geringer Auflage produzierten Siebdruckplakaten und -alben mit Artwork diverser Künstler*innen aus dem Umfeld der Fleischerei und der 2009 eröffneten Siebdruckwerkstatt Czentrifuga, die die Entwicklung der Berliner Street-Art-Szene vor allem im ihrer Anfangsphase zeigt.Im Laufe der Jahre eröffnen auch andere Siebdruckwerkstätten. Ein Zentrum der Szene ist seit 2012 das Urban Spree an der Revaler Straße, wo es nicht nur eine Siebdruckwerkstatt gibt, sondern auch diverse Künstler*innen ihre Ateliers haben und Ausstellungen und Festivals stattfinden.

Street Art wird nach dem Hype zu Beginn der 2000er Jahre von der klassischen Kunstszene entdeckt und eine Vielzahl an Galerien eröffnet. Die Akzeptanz dieser Form der Kunst im öffentlichen Raum steigt, bis hin zur Vereinnahmung von Street Art durch das Berliner Stadt-Marketing. Heute werden bekannte Künstler*innen von Wohnungsbaugesellschaften engagiert, um Wände von Wohnhäusern zu gestalten. Auch die Werbeindustrie hat die durch die Subkultur entwickelten Techniken für sich entdeckt. Über diese Entwicklungen wird in der Graffiti- und Street-Art-Szene inzwischen viel diskutiert. Dabei geht es auch darum, welche Verantwortung die Künstler*innen im Kontext von Kommerzialisierung, Gentrifizierung und dem Verschwinden von Freiräumen tragen. In subkultureller Weise und als kreative politische Protestform, die kommerzielle Vereinnahmung verweigernd, wird Street Art etwa von der Recht-auf-Stadt-Bewegung genutzt. Andere Künstler*innen reagieren mit Verweigerung, wie der Street-Art-Künstler Blu, der seine bekannte Wandmalerei an der Kreuzberger Cuvry-Brache 2014 nach der Räumung des ehemals besetzten Geländes schwarz übermalen lässt. Zu diesen, z. T. gegenläufigen, Entwicklungen finden sich Materialien im dem AdJ überlassenen Archiv von ReclaimYourCity.net, einem Netzwerk von Künstler*innen und Aktivist*innen, das sich mit der Schnittstelle von Graffiti, Street Art und Politik beschäftigt. Darin enthalten sind u. a. Artwork, Plakate, Aufkleber und Broschüren aus den letzten Jahren.

Mehr Infos zu Graffiti und Street Art gibt es auf der Seite des Berliner Graffitiarchivs.